Das Bundesverfassungsgericht stärkt die Wahrung des Kindeswohls – ein Meilenstein für den Kinderschutz

31.08.2017

Claudia Marquardt Rechtsanwältin

Das Bundesverfassungsgericht hat am 03.02.2017 eine für das Pflegekinderwesen, aber auch für den gesamten Deutschen Kinderschutz, wertvolle Entscheidung zur effektiven Wahrung des Kindeswohls beschlossen:
Link zur Entscheidung


Unser Büro vertrat in diesem Verfahren die Pflegeeltern. Das Kind G war im November 2014 geboren worden und kam, nachdem im Krankenhaus 9 ältere Rippenbrüche festgestellt wurden, im Februar 2015 zunächst 1 Jahr in eine Bereitschaftspflegefamilie. Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Oberlandesgericht im Oktober 2016 lebte G seit 6 Monaten in der Pflegefamilie. Die dieser Entscheidung vorausgegangene Einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichtes ist im Paten 1/2017 S. 29- 34 abgedruckt.


A. Zugrunde liegender Sachverhalt der Entscheidung


Mitte Februar 2015 stellte die Kinderärztin im Rahmen eines Routinetermins bei der damals drei Monate alten G zahlreiche Hämatome an Armen und Beinen fest. Daraufhin veranlasste die Kinderärztin die stationäre Aufnahme des Säuglings in die Kinderklinik. Die dort vorgenommenen Röntgenaufnahmen des Brustkorbs zeigten ältere knöchern konsolidierte Rippenserienfrakturen auf beiden Seiten; es waren neun Rippen gebrochen. Die Ärzte stellten fest, dass derartige Verletzungen nur durch massive Gewalteinwirkung entstehen. Diese Feststellungen bestätigte das rechtsmedizinische Gutachten. Weder die Eltern noch die mit ihnen im gemeinsamen Haushalt wohnenden Großeltern des Säuglings hatten eine schlüssige Erklärung für die Verletzungen. Die Eltern behaupten, diese Verletzungen müssten dem Säugling bei einem Klinikaufenthalt zugefügt worden sein. Das Kind wurde deshalb vom Jugendamt und ein Jahr in einer Bereitschaftspflegefamilie untergebracht. Dann kam es im April 2016 in eine Dauerpflegefamilie.


In erster Instanz holte das Familiengericht Köln ein psychologisches Sachverständigengutachten ein. Die Sachverständige kam zu folgendem Ergebnis:


„Die Gefahr eigener impulsiver unkontrollierter Reaktionen (der Eltern) gegenüber dem Kind muss aus psychologischer Sicht als erhöht angesehen werden, insbesondere vor dem Hintergrund des bestehenden Befundes einer schweren Kindesmisshandlung bei G.


In der Zusammenschau häufen sich Hinweise auf Einschränkungen der Erziehungsfähigkeit der Mutter. Dies stellt aus psychologischer Sicht insgesamt eine wesentliche Risikokonstellation für Fehlverhalten dar und ist ernst zu nehmen.“


Auch beim Vater sah die Sachverständige die Gefahr unsachgemäßer Reaktionen gegenüber dem Kind als erhöht an. Die Sachverständige schrieb:


„Bei beiden Eltern ergeben sich Hinweise auf Einschränkungen der Erziehungsfähigkeit.“


G sei zwar aktuell vermeintlich pflegeleicht und verfügt nach vorliegenden Informationen über ein ausgeglichenes Naturell, prognostisch besteht jedoch ein erhöhter erzieherischer Bedarf und eine dauerhafte erhöhte Fragilität durch die Frühgeburtlichkeit und die erfahrenen Beeinträchtigungen (wiederholte Klinikaufenthalte, wechselnde Betreuungspersonen und Umgebungsbedingungen, Frakturen mit einhergehenden erheblichen Schmerzen, bei welchem am ehesten von Misshandlungen durch eine Betreuungsperson ausgegangen werden kann).


Die Sachverständige stellte fest, im Ergebnis sei unter der Voraussetzung, dass das Kind tatsächlich durch einen Elternteil misshandelt worden sei, von einem wesentlichen Wiederholungsrisiko auszugehen, verbunden mit weitreichenden Folgen angesichts des Entwicklungs- und altersbedingt noch erhöhtem Schutz- und Betreuungsbedarfs des Kleinkindes und fehlenden Möglichkeit des Kindes zum selbständigen Schutz.


Wenn die Eltern die alleinige Verantwortung für das Kind trügen, könnte ihre Überforderung und die Erhöhung eines Misshandlungsrisikos nicht ausgeschlossen werden. Insbesondere sei eine Gefährdung des Kindes unmittelbar durch die Eltern selbst nicht auszuschließen. Das Risiko lasse sich durch aufsuchende Hilfen nicht ausreichend reduzieren.


Das Familiengericht Köln entzog den Eltern am 23. Februar 2016 die elterliche Sorge. Gegen diesen Beschluss legten die Eltern Beschwerde ein. Das Oberlandesgericht Köln hörte in der mündlichen Verhandlung nur die Eltern und die Großeltern des Kindes sowie die Pflegeeltern, das Jugendamt und den Verfahrensbeistand an.


Jugendamt und Verfahrensbeistand legten schriftlich und in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ausführlich ihre Einschätzung der Gefahr für das Kind bei einer Rückkehr in den Haushalt der Eltern dar. Die Eltern hatten keine Verantwortung für die schweren Verletzungen des Kindes übernommen. Sie hatten nichts getan, um ihre Erziehungsfähigkeit, etwa durch Beratung zu verbessern. Sie hatten Gespräche mit dem Jugendamt verweigert. Die Sachverständige war vom Oberlandesgericht nicht zur mündlichen Verhandlung geladen worden. Deshalb hätte das Oberlandesgericht eigentlich nicht von der Einschätzung der Sachverständigen abweichen dürfen. Denn der Schutz der Grundrechte des Kindes ist auch durch die Gestaltung des Verfahrens sicherzustellen. Ein Kindesschutzverfahren muss ordentlich nach den Vorschriften durchgeführt werden. Denn nur so kann das Familiengericht eine möglichst zuverlässige Grundlage für die Feststellung einer Kindeswohlgefährdung erlangen. Das Abweichen von einem fachpsychologischen Gutachten bedarf einer eingehenden Begründung und des Nachweises eigener Sachkunde des Gerichtes (Bundesverfassungsgericht NJW 99, S. 3623, 3624). Wenn das Gericht von einem fachpsychologischen Gutachten in seiner Entscheidung abweichen will, dann muss es über eine anderweitige, möglichst zuverlässige, Grundlage für die am Kindeswohl orientierte Entscheidung verfügen (Bundesverfassungsgericht FamRZ 2006, S. 605, 606).


Am 7. Oktober 2016 übertrug das Oberlandesgericht die elterliche Sorge unter dem Aktenzeichen 21 UF 56/16 zurück und ordnete an, dass das Kleinkind, das bisher seine Eltern nur alle 2 Monate 1 Stunde gesehen hatte, nach 6 Wochen „behutsamen Aufbaus einer Bindung“ in den Haushalt der Eltern zurückkehren sollte.


Den Eltern wurde noch geboten, die ihnen zur Verfügung gestellten Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe insbesondere Dienste der Erziehungsberatung und der sozialpädagogischen Familienhilfe über die Zeit der Rückführung des Kindes hinaus in Anspruch zu nehmen.


Das Oberlandesgericht Köln war der Auffassung, dass es zwar in Ordnung gewesen sei, dass das Kind vom Jugendamt in Obhut genommen wurde. Eine Fortdauer der Herausnahme des Kindes aus seiner Herkunftsfamilie erscheine aber inzwischen nach Abwägung aller Umstände nicht mehr erforderlich und nicht verhältnismäßig. Zwar sei die Verletzung des Kindes durch ein nicht zu entschuldigendes Fehlverhalten der Eltern mindestens mitverursacht worden, aber die übrigen Umstände deuteten eher auf ein Augenblicks-versagen als auf wiederholte, in vergleichbarer Weise auch künftig zu erwartende Misshandlungen hin. Konkrete Anhaltspunkte für wiederholt drohende elterliche Gewalt gegen das älter gewordene Kind wegen fehlender emotionaler Sperren des Vaters oder der Mutter könne das Oberlandesgericht nicht mehr erkennen.


Gegen diesen Beschluss des Oberlandesgerichtes Köln war als Rechtsmittel nur die Verfassungsbeschwerde möglich. Eine Verfassungsbeschwerde kann nur von der Person eingelegt werden, deren Grundrechte durch eine Entscheidung verletzt wurden. Hier waren unserer Auffassung nach zwar eklatant die Grundrechte des kleinen Mädchens verletzt worden, diese Verletzung der Grundrechte ihres Pflegekindes können Pflegeeltern aber nicht im Wege der Verfassungsbeschwerde rügen.


Der vom Gericht bestellte Verfahrensbeistand kann aber, was viele übrigens nicht wissen, sowohl Rechtsmittel gegen eine Entscheidung des Familiengerichts als auch Verfassungsbeschwerde für das von der Entscheidung betroffene Pflegekind einlegen.


Hier hatte das Pflegekind das Glück, dass der Verfahrensbeistand sich sehr engagierte und tatsächlich die Verfassungsbeschwerde einlegte!


B Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes


Im Folgenden sind die wesentlichen Elemente der Entscheidung dargelegt und wichtige Passagen im Wortlaut zitiert. Die vorgestellten Nummern sind die Nummern der Originalentscheidung. Die Zitate können so schnell gefunden werden.


1. Der vom Gericht bestellte Verfahrensbeistand kann für das vom Verfahren betroffene Kind Verfassungsbeschwerde einlegen und die Verletzung der Grundrechte des Kindes rügen:


35. „Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Insbesondere ist die Beschwerdeführerin aufgrund ihrer Bestellung als Verfahrensbeiständin befugt, Verfassungsbeschwerde einzulegen und mit dieser - ausnahmsweise - fremde Rechte in eigenem Namen geltend zu machen (so zur Position des Verfahrenspflegers im Betreuungsverfahren bei ähnlicher Interessenlage und gesetzlicher Ausgestaltung BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 22. Mai 2013 - 1 BvR 372/13 -, juris, Rn. 4 ff.; ebenso Engelhardt, in: Keidel, FamFG, 18. Auflage 2014, § 158 Rn. 44a)“.


2. Die Grundrechte des Kindes aus Artikel 2 Abs. 1 und Abs. 2 GG i.V.m. Artikel 6 Abs. 2 S. 2 GG und die Pflicht des Staates das Kind wenn notwendig durch Trennung von seinen Eltern zu schützen


38 „Das Kind hat nach Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG einen Anspruch auf den Schutz des Staates, wenn seine Eltern ihm nicht den Schutz und die Hilfe bieten, die es benötigt, um gesund aufzuwachsen und sich zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit zu entwickeln Diese Schutzpflicht kann dem Staat gebieten, das Kind von seinen Eltern zu trennen oder eine Trennung aufrechtzuerhalten, wenn das Kind in der Obhut seiner Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist (2). Die Entscheidung, ob eine Trennung des Kindes von den Eltern geboten ist, verlangt dem Gericht eine Prognose ab und unterliegt darum besonderen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ausgestaltung des gerichtlichen Verfahrens).“


39 In erster Linie sind die Eltern dazu da, ihr Kind zu versorgen und zu erziehen. Aber: „Das Kind hat nach Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG einen Anspruch auf den Schutz des Staates, wenn die Eltern ihrer Pflege- und Erziehungsverantwortung (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) nicht gerecht werden ...“.


40 „Das Kind, dem die Grundrechte, insbesondere das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) und das Recht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) als eigene Rechte zukommen, steht unter dem besonderen Schutz des Staates (vgl. BVerfGE 24, 119, <144>; 55, 171 <179>; 57, 361 <382>; 133, 59 <73 Rn. 42>).“


3. Die Verpflichtung des Staates zur Wahrung des Kindeswohls


44 „Der Staat kann verfassungsrechtlich berechtigt (Art. 6 Abs. 3 GG) und verpflichtet (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG) sein, zur Wahrung des Kindeswohls die räumliche Trennung des Kindes von den Eltern zu veranlassen oder aufrechtzuerhalten. Das ist dann der Fall, wenn das Kind bei einem Verbleib in der Familie oder bei einer Rückkehr dorthin in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist (vgl. BVerfGE 60, 79 <91>; 72, 122 <140>; 136, 382 <391 Rn. 28>; stRspr)“.


40 „Kinder bedürfen des Schutzes und der Hilfe, um sich zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten innerhalb der sozialen Gemeinschaft entwickeln und gesund aufwachsen zu können (vgl. BVerfGE 107, 104 <117>; 121, 69 <92 f.>; 133, 59 <73 Rn. 42>). Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und das Recht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit verpflichten den Staat, Lebensbedingungen des Kindes zu sichern, die für seine Entwicklung und sein gesundes Aufwachsen erforderlich sind (vgl. BVerfGE 24, 119 <144 f.>; 57, 361 <383>; 133, 59 <73 f. Rn. 42>).“


41 „Ist das Kindeswohl gefährdet, ist der Staat nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, die Pflege und Erziehung des Kindes sicherzustellen; das Kind hat insoweit einen grundrechtlichen Anspruch auf den Schutz des Staates (vgl. BVerfGE 24, 119 <144>; 60, 79 <88>; 72, 122 <134>; 107, 104 <117>).“


42 „Diese Schutzpflicht gebietet dem Staat im äußersten Fall, das Kind von seinen Eltern zu trennen oder eine bereits erfolgte Trennung aufrechtzuerhalten.“


43 „Ob der Staat zum Schutz des Kindes tätig werden muss und darf und welche Schutzmaßnahmen zu ergreifen sind, bestimmt sich nach Art und Ausmaß der Gefahr für das Kind. Nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit verpflichtet und berechtigt den Staat, die Eltern von der Pflege und Erziehung auszuschalten oder gar selbst diese Aufgabe zu übernehmen; vielmehr ist stets dem grundsätzlichen Vorrang der Eltern vor dem Staat Rechnung zu tragen. Die Eltern haben ein Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG), die Kinder haben ein gegen den Staat gerichtetes Recht auf elterliche Pflege und Erziehung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG), beide sind gemäß Art. 6 Abs. 3 GG besonders dagegen geschützt, voneinander getrennt zu werden (vgl. BVerfGE 136, 382 <391 Rn.29>). Der Staat darf und muss daher zunächst versuchen, durch helfende, unterstützende, auf Herstellung oder Wiederherstellung eines verantwortungsgerechten Verhaltens der natürlichen Eltern gerichtete Maßnahmen sein Ziel zu erreichen. Darauf ist er jedoch nicht beschränkt, sondern er darf und muss, wenn solche Maßnahmen nicht genügen, den Eltern die Erziehungs- und Pflegerechte vorübergehend, gegebenenfalls sogar dauernd entziehen (vgl. BVerfGE 24, 119 <144 f.>; stRspr).“


4. Definition der Kindeswohlgefährdung durch das Bundesverfassungsgericht


44 „Die Annahme einer nachhaltigen Gefährdung des Kindes setzt nach ständiger Rechtsprechung voraus, dass bereits ein Schaden des Kindes eingetreten ist oder sich eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 19. November 2014 1 BvR 1178/14 -, Rn. 23, m.w.N.; s. auch BGH, Beschluss vom 15. Dezember 2004 XII ZB 166/03 -, FamRZ 2005, S. 344 <345>).“


5. Vorausgegangene Kindeswohlgefährdung


Wenn Anhaltspunkte für eine nachhaltige Kindeswohlgefährdung bestehen, dann folgt daraus eine gesteigerte Aufklärungs- und Prüfungspflicht für das Gericht. Es muss das Unterlassen von Maßnahmen zugunsten des Kindes besonders begründen.


53 „Es bestehen mehrere Anhaltspunkte dafür, dass eine nachhaltige Gefahr für das Kind vorliegt, so dass das Gericht mit Rücksicht auf die Art und Schwere der dem Kind drohenden Gefahr bezüglich seiner gegenläufigen Einschätzung besonders hohen Begründungsanforderungen unterliegt.“


54 „Die Anforderungen an die Begründung einer Rückführung sind hier besonders hoch, weil es - vom Oberlandesgericht näher zu klärende und zu bewertende - Anhaltspunkte dafür gibt, dass das Kind bei einer Rückkehr in die elterliche Obhut schwerste körperliche Misshandlungen erleiden könnte. In der Vergangenheit ist es bereits zu einer solchen Misshandlung gekommen (neunfacher Rippenbruch, der eine kräftige Gewalteinwirkung voraussetzt), deren Umstände nicht aufgeklärt sind, für die die Eltern indessen auf die ein oder andere Art für verantwortlich gehalten werden.“


Ferner bemängelt das Bundesverfassungsgericht:


64 „Aus der Entscheidung (des Oberlandesgerichtes Köln) geht andererseits nicht hervor, inwiefern sich die Gefahrenlage (bei den Eltern) verbessert haben soll. Es ist nicht dargelegt, was sich in der Zeit der Fremdunterbringung auf Seiten der Eltern im Vergleich zur damaligen Familiensituation, in der es zu dem Übergriff kam, in der Weise verändert haben soll, dass eine Abweichung von der vorangegangenen Risikobewertung angezeigt erschiene. Zudem steht nun die Geburt eines weiteren Kindes bevor, so dass es bei der Betreuung bei der Kinder vermehrt zu Stresssituationen kommen kann. Hierzu wären nähere Prüfungen und Ausführungen erforderlich gewesen (vgl. BVerfGK 17, 212 <219>).“


6. Umkehr der Beweislast: Im Zweifel für das Kindeswohl


54 „Das Risiko einer neuerlichen schweren körperlichen Misshandlung realisiert sich, wenn es denn eintritt, nicht in einer prozesshaften Entwicklung, die beobachtet und nachträglich aufgehalten werden könnte; der Schadenseintritt ist vielmehr unumkehrbar. Eine Rückführung verlangt unter diesen Umständen ein hohes Maß an Prognosesicherheit, dass dieser Schaden nicht eintreten wird, was sich in hohen Begründungsanforderungen niederschlägt.“


Das bedeutet, im Zweifel muss die Trennung des Kindes von seinen Eltern aufrechterhalten werden und nicht umgekehrt.


7. Nachhaltige Kindeswohlgefährdung auch durch Trennung von der Pflegefamilie


45 „Ist ein Kind, wie hier, seit längerer Zeit bei einer anderen Pflegeperson untergebracht, kann die Gefahr für das Kind gerade aus der Rückführung resultieren. In einem solchen Fall ist es verfassungsrechtlich geboten, bei der Kindeswohlprüfung die Tragweite einer Trennung des Kindes von seiner Pflegeperson einzubeziehen und die Erziehungsfähigkeit der Ursprungsfamilie auch im Hinblick auf ihre Eignung zu berücksichtigen, die negativen Folgen einer durch diese Trennung womöglich verursachten Traumatisierung des Kindes gering zu halten (vgl. BVerfGK 17, 212 <221>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 22. August 2000 - 1 BvR 2006/98 -, juris, Rn. 13; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22. Mai2014 - 1 BvR 2882/13 -, juris, Rn. 31).“


„Das Kindeswohl gebietet es, die neuen gewachsenen Bindungen des Kindes zu seinen Pflegepersonen zu berücksichtigen und das Kind aus seiner Pflegefamilie nur herauszunehmen, wenn die körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigungen des Kindes als Folge der Trennung von seinen bisherigen Bezugspersonen unter Berücksichtigung der Grundrechtsposition des Kindes hinnehmbar sind (vgl. BVerfGE 68, 176 <187 ff.>; 72, 122 <140>; 75, 201<217 ff.>; 79, 51 <64>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22. Mai 2014 - 1 BvR 2882/13 -, juris, Rn. 31).“


65 „Es bestehen auch Anhaltspunkte dafür, dass eine nachhaltige Kindeswohlgefahr aus den rückführungsspezifischen Belastungen resultieren könnte, weil die leiblichen Eltern den hierdurch gesteigerten Anforderungen an die Erziehungsfähigkeit nicht gerecht werden könnten. Insoweit hat es das Gericht bereits an der gebotenen Sachverhaltsaufklärung fehlen lassen.“


66 „Das Oberlandesgericht hat sich nicht ausreichend mit der Frage befasst, ob und in welchem Maße zu den jetzigen Pflegeeltern Bindungen entstanden sind und eine abermalige Herausnahme aus dem sozialen Umfeld eine nicht hinnehmbare Schädigung des Kindes nach sich ziehen kann. Die Annahme, dass das seit April 2016 bei der Dauerpflegefamilie lebende Kind noch keine beachtlichen Bindungen zu der jetzigen Pflegefamilie entwickelt habe, stützt das Gericht allein auf eine nicht näher wiedergegebene Angabe der Pflegeeltern, die auch nicht aussagekräftig protokolliert ist.“


67 „Mögliche aus der Rückführung erwachsende weitere Belastungen für das ohnehin schon erheblich vorbelastete Kind sind nicht näher untersucht worden. Die Gründe des angegriffenen Beschlusses lassen demgemäß auch nicht erkennen, dass das Oberlandesgericht der Frage nachgegangen ist, ob die leiblichen Eltern in der Lage sind, die mit der Herausnahme des Kindes aus der Pflegefamilie verbundenen nachteiligen Folgen so gering wie möglich zu halten. Auch insoweit hätten die im elterlichen Umfeld erfolgte und nicht aufgearbeitete Misshandlung des Kindes sowie die eingeschränkte Erziehungsfähigkeit der Eltern in Bezug auf Emotionalität , Feinfühligkeit und Empathie Anlass für eine eingehende Prüfung – gegebenenfalls unter Zuhilfenahme sachverständiger Unterstützung- gegeben.“


8. Abweichen von der Einschätzung der Fachleute, zu denen auch das Jugendamt und der Verfahrensbeistand zählen


Das Oberlandesgericht hatte sich mit seiner Entscheidung über die Gefährdungseinschätzung aller am Verfahren beteiligten Fachleute hinweggesetzt und begründete das so:


„Obgleich die Verletzung des Kindes danach durch ein nicht zu entschuldigendes Fehlverhalten der Eltern mindestens mitverursacht worden sei, deuteten die übrigen Umstände eher auf ein Augenblicksversagen als auf wiederholte, in vergleichbarer Weise auch künftig zu erwartende Misshandlungen hin.“


„Soweit die psychologische Sachverständige und die beteiligten pädagogischen Fachkräfte daneben Einschränkungen der elterlichen Erziehungsfähigkeit vor allem im Bereich der Emotionalität, Feinfühligkeit und Empathie ausgemacht hätten, halte es auch der Senat nicht für ausgeschlossen, dass die Eltern in dieser Hinsicht längerfristiger Anleitung, aufsuchender Hilfe und Korrektur bedürfen könnten. Nach den vorliegenden Berichten, die durch den persönlichen Eindruck von beiden Eltern bei ihrer Anhörung vor dem Senat bestätigt würden, verfügten diese aber auch über beachtliche emotionale Ressourcen, die es zu verstärken gelte. Ihre von den Fachleuten beobachtete Unsicherheit bei den seit langem auf nur wenige Stunden beschränkten Interaktionen mit dem Kind dürfe in diesem Zusammenhang nicht überbewertet werden.“


„Nach umfassender Abwägung der für und gegen einen fortdauernden Sorgerechtsentzug sprechenden Gesichtspunkte hege der Senat die Erwartung, dass die Eltern trotz eigener lebensgeschichtlicher Belastungen und daraus abzuleitender Gefährdungen zu einer gewaltfreien Erziehung und Sorge für ihr Kind willens und in der Lage seien. Werde ihre ihm Kern vorhandene Pflege- und Erziehungskompetenz mit Hilfe geeigneter Maßnahmen (§§ 27 ff. SGB VIII) gestärkt, erscheine deshalb aus heutiger Sicht die Trennung des Kindes von seiner Herkunftsfamilie nicht mehr gerechtfertigt, sondern seine behutsame Rückführung geboten.“


8.1 Abweichen vom Sachverständigengutachten


Auch vor der hier besprochenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes durften die Gerichte nicht vom Ergebnis des Sachverständigengutachtens abweichen. Grundsätzlich gilt: Kommt das Sachverständigengutachten zu dem Ergebnis, dass dem Kind bei seinen Eltern nachhaltige Gefahr droht, dann darf das Gericht nicht von dieser Einschätzung abweichen. Das darf es nur, wenn es eine andere verlässliche Grundlage für seine Entscheidung hat.


8.2 Abweichen von der Einschätzung der Fachkräfte der Jugendhilfe


Es ist wichtig, dass das Bundesverfassungsgericht hier deutlich Position bezog. Es ist ja oft erschreckend, wie manche Familiengerichte die Einschätzungen der Fachleute einfach vom Tisch wischen. Dazu führt das Bundesverfassungsgericht aus:


49 „Weicht das Gericht von den Feststellungen und Wertungen weiterer beteiligter Fachkräfte ab (insbesondere Verfahrensbeistand, Jugendamt, Familienhilfe, Vormund), gilt im Grundsatz das Gleiche (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 24. März 2014 - 1 BvR 160/14 -, juris, Rn. 44 ff.; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. August 2014 - 1 BvR 1822/14 -, juris, Rn. 37; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Januar 2016 - 1 BvR 2742/15 -, juris; jeweils zu Art. 6 Abs. 3 GG).“


55 „Das Oberlandesgericht weicht mit der Verneinung einer nachhaltigen Kindeswohlgefahr von der - von anderen Beteiligten (insbesondere Verfahrensbeiständin und Jugendamt) im Wesentlichen geteilten - Einschätzung der Sachverständigen ab, ohne dies hinreichend zu begründen und insbesondere ohne darzulegen, inwiefern es anderweitig über eine verlässliche Grundlage für eine am Kindeswohl ausgerichtete Entscheidung verfügt“.


9. Abwendung der Gefahr durch öffentliche Hilfen


69 „Die Einschätzung des OLG, die - in der Entscheidung nicht näher spezifizierte – Gefährdung für das Kind in elterlicher Obhut könne durch öffentliche Hilfen abgewendet werden, ist angesichts des Ausmaßes der hier in Rede stehenden Gefahren nicht ausreichend begründet. Das Gericht versäumt insoweit, Möglichkeiten und Grenzen öffentlicher Hilfen im konkreten Fall aufzuklären und darzulegen welche Hilfen im Einzelnen welche Gefährdungsrisiken kompensieren sollen, ...“


Das Gericht muss also aufklären, ob und welche Hilfen des Jugendamtes geeignet sind, die Gefahr für das Kind tatsächlich zu beseitigen. Nur eine 24 Stunden anwesende Betreuung könnte tatsächlich eine Kindesmisshandlung verhindern. Eine solch intensive Betreuung gibt es nicht einmal im Eltern-Kind-Heim.


Resümee


Zwischen 2015 und 2017 ergingen Entscheidungen, in denen das Bundesverfassungsgericht 8 Entscheidungen von Oberlandesgerichten aufhob und die Anlass zur Besorgnis gaben. Allen 8 Entscheidungen lagen Verfassungsbeschwerden der leiblichen Eltern zugrunde. Die nun 2017 ergangene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes ist ein Meilenstein für die Kinder in Deutschland, deren Wohl durch Vernachlässigung, Misshandlung und Trennungen von ihren Pflegefamilien bedroht ist.